Spätestens seit dem Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts verschaffen Rezeptionsästhetik, reader response criticism und in Teilen auch der entstehende Poststrukturalismus einer ebenso einfachen wie überzeugenden Idee einen nachhaltig wirkungsvollen Auftritt auf der literaturtheoretischen Bühne: Leser nehmen die Bedeutung eines Textes weder passiv auf, noch erfassen sie lediglich eine vorgängig existierende Textstruktur; vielmehr erzeugen oder konkretisieren sie die Bedeutung eines Textes erst im Prozess der Lektüre. Obwohl ein grundsätzliches Interesse am Leser und der Rezeption von Literatur in den Philologien bis heute anhält – die kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft sei hier exemplarisch genannt –, ist das Wissen über die Prozesse literarischer Bedeutungskonstituierung und ihres Wandels circa 50 Jahre nach den angesprochenen theoretischen Einsätzen begrenzter als man angesichts einer verhältnismäßig elaborierten innerdisziplinären Ausdifferenzierung in Rezeptionsästhetik, -geschichte und –forschung zunächst erwarten könnte.